Subjektiv: Was bedeutet Beziehungsanarchie für mich? [WORK IN PROGRESS]

Warum dieser Text?

Es gibt zu wenig Texte auf deutsch, die sich in halbwegs einfachen Worten mit abweichenden Formen der Beziehungsführung auseinandersetzen. Dieser Text soll kein Manifest der Überlegenheit, sondern vielmehr eine Sammlung an Erfahrungen sein. Ich möchte niemanden zu Beziehungsanarchie überreden - aber wenn dieser Text zum Nachdenken anregt, fänd ich das auch okay.
Wenn Menschen mit Monogamie besser zurechtkommen, sollen sie das gern beibehalten. Es kann ihnen vermutlich aber auch nicht schaden, wenn sie sich kritisch damit auseinandersetzen.


Was sind "Beziehungen"?

Ich verwende den Begriff als Beschreibung irgendwie gearteter zwischenmenschlicher Konstrukte, die über eine Grußbekanntschaft hinausgehen und sich von den Kategorien "Freunde", "Familie" oder "Sonstige" abgrenzen lassen. Damit mache ich es mir recht einfach - aber eine komplexere Aufarbeitung der Begrifflichkeiten würde den Rahmen dieses Textes schlicht sprengen. Im Alltag verwende ich lieber "Lieblingsmensch", "Herzensmensch" oder schlicht den Namen der Person. Die ausdifferenzierte Analyse der Beziehungsart zu einer Person ist selten gegenüber anderen Menschen nötig. Meist reicht ein "Das ist sowas wie...". Meiner Erfahrung nach ist auch für Menschen, die eine sehr enge Bindung haben, eine Benennung dessen nicht immer nötig. Außenstehenden gegenüber ist eine "Sowas wie..."-Beschreibung meist genug, auch wenn sie vielleicht wenig mit der Realität zu tun hat. Ab wann ist es denn eine Beziehung? Reicht ein Kuss? Braucht es Körperlichkeit? Und wenn ja, was machen dann aromantische oder asexuelle Personen?


Was ist denn nun diese Beziehungsanarchie?

Unter Beziehungsanarchie verstehe ich grob eine Sammlung verschiedener Einstellungen und Erwartungen gegenüber zwischenmenschlichen Beziehungen.

Ein Aspekt ist für mich, dass die Bedingungen der Beziehung zwischen 2 Menschen nur von diesen beiden Personen ausgehandelt werden. Von außen aufgestülpte Vorstellungen, wie eine Beziehung auszusehen hat, weichen Gesprächen, was Wünsche und Bedürfnisse der Personen sind und womit sich Menschen wohlfühlen.

Im Alltag kann sich das bei mir ganz unterschiedlich äußern: "Wie fühlst du dich gerade damit?" oder "Welche Erwartungen hast du an unsere Beziehung?" sind nur 2 von vielen Fragen, die ein Verstehen der Position von Lieblingsmenschen zum Ziel haben und meiner Ansicht nach durch Offenheit und Ehrlichkeit die Möglichkeit langfristiger Beziehungen nach dem Konsensprinzip schaffen.

Auch in beziehungsanarchistischen Konstrukten gibt es Hierarchien: Wissens- und Vertrautheitsunterschiede, Prioritäten und Ressourcen zum Beispiel. Hierarchien oder Priorisierungen finde ich nicht verwerflich - solange sie nicht gegen eine Person eingesetzt werden. Wenn das der Fall ist, ist aber an einer Beziehung ohnehin etwas faul.

Bei mir äußern sich manche der Prioritäten etwa in der Häufigkeit des gemeinsamen Zeitverbringens. Es gibt aber auch Menschen in meinem Leben, die sagen, dass sie es als sehr nah aber absolut ausreichend empfinden, sich nur selten zu sehen. Deren Priorität ist dann auch manchmal einfach ein "Ich brauche viel Zeit für mich, freue mich aber trotzdem darüber, dass du in meinem Leben bist".


"Beziehungs-" und "Berührungsrolltreppe"

Was der hier vorgestellte Ansatz u.a. erreicht, ist das Infragestellen gesellschaftlicher Normen: Es gibt eine Theorie, wonach die meisten Beziehungen in unserer Gesellschaft nach einem "Rolltreppen-Prinzip" funktionieren. Haben sich zwei Personen kennengelernt und geküsst, ist dieser Kuss das neue Minimum in der Beziehung. Ziehen Sie in eine gemeinsame Wohnung, ist dies der neue Standard. Ein Zurückgehen auf ein vorheriges (und vielleicht deutlich besser passendes) Niveau wird von Außenstehenden als Fehlschlag gelesen - auch wenn es die Bedürfnisse der betroffenen Personen deutlich besser trifft. Letztenendes geht es aber meist oft darum, zu heiraten, zusammen ein Haus zu kaufen und mit gemeinsamen Kindern zu bewohnen. Auch oft selbstverständlich sind dabei dann die Finanzen der Beziehungspersonen zusammengelegt.

Für mich passt dieses Konzept nicht - ich halte nichts von Ehe, gemeinsamem Wohnen mit Beziehungspersonen oder eigenen Kindern. Da es für solche Konstrukte kein vorgefertigtes Schema gibt, ist Aushandeln und viel reden gefragt.

Ein ähnliches Konzept wie die "Beziehungsrolltreppe" gibt es für Berührungen - die "Berührungsrolltreppe" funktioniert ähnlich und setzt das zu erwartende Minimum von Körperlichkeit fest. In beiden Theorien sind die von außen angelegten Maßstäbe deutlich wichtiger als das Wohlbefinden der Menschen in einer Beziehung. Beziehungsanarchie heißt für mich, diese Konstrukte zu erkennen, zu hinterfragen und eine passende, bessere Lösung zusammen zu entwickeln. Diese funktioniert dann nicht nach "Schema F", wird aber den beteiligten Personen deutlich gerechter.


Polyamorie und Beziehungsanarchie

Der Begriff der "Polyamorie" (komisches Kunstwort, in dem Griechisch und Latein gemischt sind) bezeichnet Mehrfachliebe (und lässt dabei keinen Raum für Aromantik). Beziehungsanarchie hingegen stellt es Menschen frei, zu lieben, einander wichtig zu finden oder einfach nur gemeinsame Zeit zu genießen.

Es gibt die eine oder andere Überschneidung zur Polyamorie - Beziehungsanarchie geht für mich aber noch deutlich weiter. Etliche polyamore Personen neigen zu Hierarchisierungen von Beziehungen. Grundsätzlich ist daran nichts auszusetzen, gibt es doch auch in beziehungsanarchistischen Konstrukten so etwas wie Wissenshierarchien oder unterschiedliche Nähe zu verschiedenen Partner*innen. Einige Polyamoröse, gefühlt vor allem in den USA, setzen jedoch auf ein striktes Regelwerk, welches Beziehungen nach Wertigkeit sortiert und der Hauptbeziehung ein Vetorecht gegenüber allen anderen Beziehungen einräumt. Diesen Ansatz halte ich als Übergangslösung zwischen verschiedenen Arten zu lieben (z.B. Wechsel von Monogamie auf Polyamorie) für okay, ist aber für mich persönlich nicht für eine dauerhafte Beziehungsführung geeignet. Konsens mit Eingriffen durch Dritte funktioniert aus meiner Sicht nicht besonders gut.


Warum mag ich diese Art der Beziehungsführung?

Ich bin ein neugieriger Mensch. Ich lerne gerne neue Menschen kennen und bin schnell von aufregenden Personen begeistert. In jüngeren Jahren war für mich etwas anderes als Monogamie eigentlich keine Option - ich kannte nichts anderes. Nun kam ich aber immer wieder an den Punkt, dass ich neue Leute kennenlernte und spannend fand. War ich bereits in einer Beziehung, so musste ich mich entscheiden: Will ich 1 neue Person kennenlernen (und damit die bestehene Beziehung beenden) oder gebe ich dem Reiz nicht nach (und verpasse vielleicht eine wahnsinnig tolle Person)? Ich bin dabei immer wieder an den Punkt gekommen, bestehende (und erfüllende) Beziehungen zu beenden und habe mich dabei verdammt beziehungsunfähig gefühlt. Lerne ich heute Menschen kennen, kann ich recht früh artikulieren, wie ich lebe. Ich muss Menschen nicht beim ersten Treffen in Kategorien wie "Beziehung", "Freundschaft" oder "nur Abenteuer" einsortieren, sondern kann diese Menschen kennenlernen und dann aushandeln, was das mit uns so ist. Es fühlt sich sehr frei an und ist doch von Verbindlichkeit geprägt. Langjährige Beziehungsmenschen fiebern mit, ob ein Date gut wird. Neue Menschen sehen, dass ich meist in mir ruhe, weil ein Netzwerk aus Beziehungen bereits aufgespannt ist und mir Halt gibt - und neue Menschen können dann schauen, ob und wie sie da reinpassen. Manchmal sind neue Leute aber auch anders als gedacht und ich muss keine Beziehung zu wichtigen Menschen opfern um das herauszufinden. Auch schön!

Ein weiterer Aspekt, der mich lange beschäftigt hat, ist ein veränderter Fokus: Gibt es in monogamen Beziehungen eine Person, auf die alles zugeschnitten ist und die immer als Ansprechpartner*in fungiert, so war es für mich lange eine komische Sache, dies an ein Netzwerk an Menschen abzugeben. Auch jetzt gibt es noch Hauptbezugspersonen- vergleichbar mit einer sehr nahen Freundschaft (beste Freund*innen), nur mehrere. Es gibt sehr verschiedene Menschen, mit denen ich über sehr verschiedene Themen reden kann - mal über Nerdkram, mal über Politik, mal über Baustellen im eigenen oder in fremden Leben. Ich muss also nicht einer Einzelperson sehr viel Verantwortung aufdrücken, sondern kann die verteilen - genauso wie ich auch nur einen Teil der Verantwortung für das Leben von Lieblingsmenschen übernehme. Bei all diesen Dingen gibt es aber trotzdem ein beeindruckendes Level an Verbindlichkeit und mein Wissen um Beliebigkeit und Desinteresse hab ich stets im Hinterkopf.


Zum Weiterlesen

“More than Two” ist ein Buch, was sich mit vielen der genannten Themen auseinandersetzt. Es geht viel darum, wie Kommunikation gelingen kann (gewaltfrei, aktiv zuhören, etc.). Was mir daran sehr gefällt, ist der Anspruch der Autor*innen, nicht die Wahrheit gefunden zu haben, sondern vollkommen subjektiv über gelungene Erlebnisse und Erkenntnisse zu berichten. Grundsätzlich finde ich Lernen über Beziehungen anhand eines Buches schwierig, aber dieses Buch gehört schon zu den besseren Wegen zu Verständnis und Erkenntnis (Ich habe das Buch trotzdem nicht vollständig gelesen). Nach meinem Kenntnisstand gibt es das Buch nur auf englisch und auch erst seit Kurzem als Ebook.

“Polyamory” ist ein sehr wissenschaftlich aufgezogenes Buch über die Geschichte von Beziehungsformen und die Entwicklung von Polyamorie. Für mich der entscheidende Faktor für eine Empfehlung des Buches: Es wird detailliert herausgearbeitet, dass Monogamie in der Geschichte der Menschheit eigentlich kaum eine Rolle gespielt hat und erst in den letzten knapp 300 Jahren überhaupt als eine Option betrachtet wurde. Spannend (und manchmal etwas elfenbeinturm-artig)!

Auf Reddit gibt es einige englischsprachige Sub-Foren, die sich mit der Thematik auseinandersetzen. Ich kann empfehlen, mal bei Polyamory und bei relationshipanarchy reinzuschauen. Auch relationshipadvice bietet in der Regel gute Tipps und eine nette Community für jegliche Form der Beziehungsfragen.

Treffen

In Hessen und Umgebung gibt es einige Treffen zum Austausch über Polyamorie und/oder Beziehungsanarchie.

Das Treffen in Marburg findet immer am dritten Donnerstag des Monats um 18 Uhr in der Baari-Bar des Café Trauma statt. Es gibt auch eine Mailingliste und eine Telegram-Gruppe. Details dazu gern per Mail.

Weitere Orte, an denen schöne Treffen stattfinden sind Frankfurt (Details), Mainz (Details) oder Kassel (Details). Ich habe sehr gute Erfahrungen mit diesen Treffen gemacht und einige schöne Leute dort kennengelernt, kann aber auch verstehen, dass Menschen Vorbehalte gegen recht intimen Kontakt mit völlig Fremden haben.



Dieser Text ist noch etwas unfertig, entwickelt sich aber durch die Eindrücke und Einflüsse von tollen Personen weiter. Solltest du mir Anmerkungen zusenden wollen, schreib mir kurz ne Mail.